Thomas Noll: Zur Dualität von Tonhöhe und Tonweite
Sind die Quinte und die auf Quinthöhe gestauchte Oktave einunddasselbe? Wer diese spitzfindige Frage nach der unhörbaren Differenz
dieser beiden Entitäten verneint, läuft nach wissenschaftlichem Brauch zunächst ins offene Ockham'sche Rasiermesser. Diese
Differenz ist jedoch die Definition für einen fruchtbaren musiktheoretischen Begriff: den der Tonweite. Den Kontext zu dieser Behauptung
bildet ein mathematischer Ansatz zur Untersuchung der Glareanschen Modi. Inspiriert ist er von Jacques Handschins Begriff des Toncharakters.
Handschins Untersuchungen zur Konstitution von Tonbeziehungen zielten darauf ab, die enge Fokussierung der Tonpsychologie auf den
Tonhöhenparameter zu überwinden und um ältere Ideen aus der Musiktheorie zu bereichern. Die Quintenkette spielte dabei die Rolle einer
Skala von Charakterunterschieden.
Der von David Clampitt, Manuel Dominguez und mir entwickelte mathematische Ansatz beruht auf der algebraischen Kombinatorik von Wörtern,
einer mathematischen Teildisziplin, die in den letzten Jahrzehnten Auftrieb durch Anwendungen u.a. in der Informatik und Computergraphik
bekommen hat. Die wichtigsten mathematischen Gegenstände sind dabei Christoffel-Wörter und ihre Konjugierten, Christoffel-Dualität
und Sturmsche Morphismen. Unsere Methode bei der musiktheoretischen Interpretation ist das Aufzeigen von strukturellen Zusammenhängen und
logischen Abhängigkeiten zwischen andernfalls disparaten Gegenständen und Tatsachen. In meinem Vortrag will ich insbesondere auf
einen engen mathematischen Zusammenhang zwischen den diatonischen Modi und den Hexachorden eingehen, sowie auf zwei Kritikpunkte, die Carl
Dahlhaus gegen den Begriff des Toncharakters vorgebracht hatte. Siehe auch: http://user.cs.tu-berlin.de/~noll/HeightWidthDuality.pdf